Frühlingsgefühle

Wieder sind vier Monate wie im Handumdrehen vergangen – Zeit für einen neuen Bericht. Das Hauptereignis zwischen März und Juni war unser Osterurlaub in Deutschland, knapp gefolgt vom 17. Mai, dem norwegischen Nationalfeiertag. Der Rest der Zeit verging ganz schnell und ganz ohne Hauptattraktionen, aber gefüllt mit einer Menge merkwürdiger Bedenklichkeiten.

Beginnen wir mit dem Wetter.

 

Komm lieber Mai

Früher haben wir uns immer gewundert, warum das Lied „Komm lieber Mai“ und nicht „Komm lieber April“ heißt, aber in Norwegen ist uns die tiefe Bedeutung des Mai aufgegangen. Das Wetter im März und April war hauptsächlich freundlich und kalt, mit gelegentlichem Regen und Nebel. Die Temperaturen stiegen von 2 bis auf 8 Grad.

Anfang Mai hatten wir plötzlich 15 Grad und die bis dahin ruhende Natur explodierte. Innerhalb einer Woche war alles grün, und was blühen konnte, begann zu blühen: Osterglocken, Tulpen, Ginster, Kirschbäume, Anemonen, Magnolien, Rhododendron, Blaubeeren (ja, die blühen auch, mit kleinen rosaroten Lampions) und eine Menge Gewächse, die wir nicht benennen können. 

Allerdings haben wir dieses Jahr einen ungewöhnlich warmen Frühling, die Durchschnittstemperatur für Mitte Mai liegt eigentlich bei 9 Grad Celsius.  Es regnet auch nur noch ganz, ganz selten, so dass wir und der Garten für jeden Tropfen dankbar sind.

Ja, der Garten. Im April war er wunderschön, überall schossen plötzlich Krokusse und später Osterglocken hervor, ein rundes Beet enthielt leuchtend blaue Traubenhyazinthen und zartgelbe Osterglocken, später kamen noch rote Tulpen dazu. Felix hatte von seinem Zimmer den schönsten Ausblick auf  unzählige Terrassenbeete mit Frühblühern.

Von der bunten Frühlingspracht ist längst nichts mehr zu sehen. Alles ist grün, und wir wissen nicht, was Unkraut ist und was nicht. Wir hoffen, mehr herauszufinden, wenn die vielen neuen Gewächse zu blühen anfangen.

Andreas hat im März einen großen Gartenzukunftsplan erstellt, und im April haben wir deshalb ein paar Reihen Gemüsesamen, mehrere Beerensträucher und vier neue Bäume zu den fünfzig bereits vorhandenen im Garten verteilt. Außerdem sind große Teile des Anwesens jetzt personengebunden. Felix bearbeitet den Beerenhügel neben der Einfahrt, Flora hat ein Blumen- und Kräuterbeet mit Erdbeerpflanzen und Frieder ein richtig großes Kartoffelbeet. Lisanne pflegt die Blumenkästen auf der Terrasse und vorm Eingang und Andreas den Rest.

Dieser Rest besteht zum großen Teil aus unserem „Wald“ und den Obstbäumen, die Andreas im Winter gründlich beschnitten hatte. Für die geradezu unglaublichen Mengen an abgeschnittenen Ästen und Zweigen und vertrockneten Staudenstängeln haben wir uns einen Häcksler angeschafft, der auf Norwegisch aus unerfindlichen Gründen Kompostmühle heißt.

Außerdem besitzen wir jetzt sogar Stühle und einen Tisch auf der Terrasse. Falls mal nichts im Garten zu tun sein sollte, können wir dort gemütlich sitzen und uns wundern, wie  schnell alles wächst. Unsere neue Rhabarberpflanze hat schon fünf hundeohrgroße Blätter! Die Kirsch- und Apfelbäume haben ausgiebig geblüht und nun prüfen wir jeden Tag, wie groß die Kirschen schon sind.  Im Moment tragen unsere drei Kirschbäume eimerweise erbsengroße und grüne Früchte, allerdings wurde uns vorausgesagt, dass die Möwen beim Ernten schneller sein werden als wir.

Das Gewächshaus haben wir bisher nur sporadisch benutzt. Andreas hat Basilikum gesät und die Kürbisse vorgezogen, und wir haben auch schon Pflanzenasyl gewährt. Außerdem haben wir gelernt, dass ein Gewächshaus mit Vorsicht benutzt werden sollte. Über Mittag steigen die Temperaturen im ungelüfteten Gewächshaus bis auf sechzig Grad Celsius, und unsere erste Portion Basilikum ist an Sonnenbrand gestorben.

 

Gesundheit

Das norwegische Gesundheitssystem überrascht uns immer wieder. Aus zwingenden Gründen haben wir uns nun endlich um einen Zahnarzt gekümmert. Einen festen Zahnarzt zu finden, ist zum Glück nicht mehr so schwierig wie noch vor zwei Jahren, als es einfach nicht genug Zahnärzte gab.

Allerdings hat Andreas dann vor dem ersten Termin Zahnschmerzen bekommen. Es hat zwei Tage gedauert, bis Lisanne mit viel Überredungskunst einen Termin für diesen Notfall organisieren konnte. Die Zahnärzte waren entweder gar nicht zu erreichen, oder sie haben kategorisch abgelehnt, Andreas einfach so mal zwischendurch zu behandeln. Auf Lisannes Frage, was denn Norweger mit Zahnschmerzen machen würden, hieß es, dass die eben suchen müssten, bis sie einen Zahnarzt gefunden haben, der noch einen freien Termin hat. Notfalls in den Nachbarorten.

Den mit viel Glück ergatterten Termin darf man dann auch selbst bezahlen. Eine gewöhnliche „Durchsicht“ für einen Erwachsenen kostet knapp 50 Euro (450 Kronen), eine Füllung 300, 600 oder 900 Kronen (36, 73 oder 109 Euro), je nach dem, wie viele Außenwände des Zahns betroffen sind. Für unsere erste Zahnarztrunde haben wir zusammen etwa viereinhalbtausend Kronen bezahlt. Da lohnt sich das Zähneputzen!

Die Kinder werden kostenlos vom Zahngesundheitsdienst behandelt, allerdings wussten sie dort noch nicht, dass wir auch zu ihrem Einzugsbereich gehören. Mitte Mai haben wir alle drei dort angemeldet. Frieder, der offensichtliche Löcher (aber noch keine Zahnschmerzen) hat, konnte schon sechs Wochen später, im Juli, zum Zahnarzt kommen, die anderen beiden bekamen einen Durchsichtstermin bei der Schwester: für August.

Ansonsten scheint öffentliche Gesundheitskontrolle für Kinder in Norwegen einen hohen Stellenwert zu haben. In Frieders Klasse war allgemeines Impfen in der Schule angesagt. Da Frieder unserer Meinung nach die entsprechende Impfung schon hatte, haben wir darauf verzichtet – und sofort einen Brief erhalten, dass wir uns mit allen Impfpapieren bei der „Gesundheitsschwester“ melden sollen.

Allerdings war es sehr schwierig, einen Kieferorthopäden zu finden, der Frieder richtig und gaumenspaltengemäß behandeln kann. Erst waren wir beim Hausarzt (117 Kronen). Der überwies uns zum Hals-Nasen-Ohrenarzt (245 Kronen), meinte aber, dass vielleicht auch der Zahnarzt zuständig sei. Der HNO-Arzt wusste eine gute Spezialabteilung im Krankenhaus in Arendal. Die stellten fest (245 Kronen), dass sie gar nicht zuständig sind, sondern ein ganz gewöhnlicher Kieferchirurg, der allerdings Verbindung zur zentralen Spaltenkinder-Behandlungsstelle in Oslo haben sollte. Schon sechs Wochen später bekamen wir einen Termin bei der Kieferchirurgin(245 Kronen), die uns nach Oslo überwies. Nach Oslo fahren wir Ende Juni – allerdings kostenfrei, denn wir haben den Jahreseigenanteil bereits bezahlt.

Überhaupt kennen wir uns jetzt in norwegischen Krankenhäusern schon richtig gut aus.

Andreas hat nähere Bekanntschaft mit der Rettungsstation in Arendal geschlossen, nachdem er versucht hatte, eine Baumwurzel oben auf unserem Felsen durch kräftiges Ziehen aus dem Hochbeet zu entfernen. Sein rechtes Handgelenk überstand die Landung nicht ganz so gut und durfte sich vier Wochen im Gips ausruhen.

Frieder war inzwischen mehrere Male zur Vor- und Nachsorge in Oslo im Rikshospital und das Ohr ist hoffentlich endlich heile. Die eigentliche Operation dauerte fünf Stunden. Frieder hat jetzt ein neues Trommelfell aus einem Stück Kaumuskel, der Amboss wurde umgedreht, damit die Schallübertragung funktionieren kann, die Gänge für eine ausreichende Belüftung geweitet, Löcher wurden mit Knorpel aufgefüllt und eine Menge entzündetes Gewebe entfernt.

Dienstagabend um fünf wachte Frieder aus der Narkose auf, Mittwoch um zwei saßen wir im Bus nach Grimstad. Wie Lisanne vermutet hatte, waren mehr als vier Stunden Busfahrt einen Tag nach der Operation doch ganz schön viel, zum Schluss saß Frieder nur noch auf ihrem Schoß und weinte. Sie hatte den Arzt mehrere Male gefragt, ob er Frieder wirklich so schnell nach Hause schicken will, aber er meinte nur, dass das Krankenhaus kein Geld dafür bekäme, wenn wir dort übernachten – und dass Lisanne ja genauso gut wie die Schwestern den Verband wechseln und Schmerztabletten verteilen könnte.

Insgesamt aber war die Atmosphäre im Krankenhaus viel freundlicher und entspannter, als wir es von Deutschland kennen. Einen kleinen Auszug aus der Patientenbroschüre des Rikshospitals möchten wir Euch nicht vorenthalten. Dort heißt es:

„Wenn du ins Rikshospital kommst, soll das Personal darauf vorbereitet sein, dich zu treffen. Es soll dir aufmerksam und mit Respekt begegnen.

Du hast das Recht, deine eigenen Patientenunterlagen zu lesen. Wenn du die Sprache schwierig findest, sollst du Hilfe bekommen, um sie zu verstehen. …

Du sollst nicht warten, wenn du zur Poliklinik kommst. Musst du mehr als 15 Minuten warten, bekommst Du eine begründete Erklärung. Musst du mehr als eine Stunde warten, brauchst du keinen Eigenanteil bezahlen. …“

Felix war inzwischen noch mal bei unserem Hausarzt. Der stellte erst mal fest, dass die Medizin, die wir beim letzten mal aus der Apotheke mitgebracht hatten, völlig falsch war (Felix hatte zum Glück noch nichts davon genommen), und dann schlug er auf Lisannes Frage nach einer Dosisreduzierung vor, dass Felix doch die Asthmamedizin einfach mal komplett weglassen könnte. Das macht er, und es ist schon 6 Wochen gut gegangen. Drückt ihm die Daumen!

 

Brehms Tierleben

Im März und April stieg die Anzahl der Bewohner unseres Hauses um mindestens 500 Prozent. Die meisten Dazugekommenen waren Ameisen und Spinnen. Die Ameisen kamen in allen Varianten  - kleine, große, schwarze, rote, geflügelte und ungeflügelte – und an allen möglichen Orten vor, einschließlich Betten, Bäder, Mehlbüchsen und Stiefeln. Die kleinen schwarzen Ameisen hatten eine besondere Zuneigung zu unserem Sofa entwickelt. Eigentlich ist es ja kein Problem, Ameisen loszuwerden – man streut Backpulver oder ähnliches dahin, wo sie herkommen. Aber unsere Ameisen kamen nirgendwo her! Sie waren auch selten an denselben Stellen zu finden, aber es war immer mal hier eine und mal da und dort auch schon wieder …. Vielleicht so zehn, zwanzig Stück am Tag. Das nervt! Flora begann zu weinen, wenn jemand das Wort „Ameise“ aussprach, und zu schreien, wenn sie eine sah. Andreas erwog ernsthaft, das Haus zu verkaufen, und die anderen übertrafen sich in Lobpreisungen der schönen tierfreien Neubauwohnung in Hellersdorf. Wir waren der Verzweiflung nahe, aber plötzlich kamen keine Ameisen mehr und alles ist wieder gut.

In Frieders Zimmer gab es nicht so viele Ameisen, dafür aber hunderte von kleinen Spinnen. Sie hatten sich am Südfenster eingenistet und widerstanden sogar den ersten drei Fitwasseranschlägen. Inzwischen gibt es nur noch ein paar etwas größere Spinnen, in fast allen Zimmern und mindestens genauso hartnäckig. Es macht gar keinen Spaß zu putzen, wenn am nächsten Morgen alle Spinnweben wieder da sind. Wenn man aus Spinnen wenigstens was Leckeres kochen könnte!

Für Spinnen haben wir noch keine guten Rezepte, aber wir entwickeln uns langsam zu guten Fischköchen. Eine unserer großen Grimstader Freuden ist der Fischverkauf (fiskeutsalg) am Hafen. Neben den leckeren warmen Fischkuchen (fiskekake, eine Art gekochte Fischbulette) gibt es dort jedes Mal etwas anderes spannendes zu sehen.

Zum Beispiel einen ganzen Steinbutt, dunkelblau und etwa einen Meter lang. Der hatte einen dreieckigen Querschnitt und mehrere große, durchscheinende, abgerundete und ziemlich lange Zähne. Das war aber noch gar nichts gegen den Seeteufel. Der sieht wirklich teuflisch aus. Das „Gesicht“ ist platt und rund und besteht eigentlich nur aus dem Maul mit einem Durchmesser von knapp einem halben Meter. In diesem Rachen sind massenhaft Zähne. Die legt der Seeteufel einfach flach, hält sich seine leuchtende Angel vors Maul und wartet, bis ein neugieriger Fisch hinein schwimmt. Und schnapp…  Der Verkäufer erklärte mir auch, warum Seeteufel so teuer ist. Der ganze Fisch wog 25 kg, aber der essbare Teil – Seeteufelkotelett, hmm -  kam gerade mal auf sechs Kilogramm.

Auch ein Heilbutt kann fünfundzwanzig Kilo schwer werden. Lisanne hat nur einen halben gesehen, und auch nur von einem mittelgroßen Exemplar. Der war so groß und dick wie ein Sofakissen und wog 8 kg – ohne Schwanz und ohne Flossen.

Und dann gab es da noch Lachs und Wildlachs und ganz kleine Forellen und große und natürlich frischen Dorsch und Plattfische aller Sorten und diese seltsamen rötlichen dicken Fische und Muscheln und Krabben und Krebse und Hummer und und...

Außer Fischen kennen wir jetzt auch ganz viele Vögel, aber die essen wir nicht. Nach den rotbäuchigen Gimpeln im Januar kamen im Februar die Goldammern und im März die Buchfinken. In unseren Bäumen nisten schwarz-weiss-graue Vögel, die wir vorher noch nie gesehen haben. Die Meisen hielten uns den ganzen Winter die Treue, zusammen mit dem Rotkehlchen. Im April mussten wir aufhören, die Vögel zu füttern, denn die Elstern haben zum Schluss die ganzen Meisenknödel geklaut. Alle, und zwar im Stück, kaum dass wir sie rausgehängt hatten.

Aber es gibt hier nicht nur Vögel. Ende März, an einem frühen dämmrigen Morgen, schaute Lisanne beim Wecken aus Felix Fenster und sah zwei Rehe vom Kohlfeld des Nachbarn flüchten. Sie wollten zurück in den Wald und mussten deshalb den ganzen langen Weg über das Feld hinter unserem Garten nehmen  - so dass wir alle genug Zeit hatten, aus den Betten zu kommen und die beiden schnellen Läufer mit den weißen Spiegeln zu bewundern.

Wir waren auch schon im Tier- und Vergnügungspark (Dyreparken) in Kristiansand. Von den Tieren dort haben wir nicht so viele gesehen. Die Wölfe hatten sich in ihrem riesigen Gehege versteckt und unsere Kinder fühlten sich mehr von der Wasserachterbahn und der Kinderautofähre angezogen als von den anderen Tieren. Wir haben uns aber gleich eine Familienjahreskarte gekauft, und hoffen, dass wir nach und nach alle Tiere und Attraktionen kennen lernen. Da gibt es ein Seeräuberschiff und einen Kinderzirkus, und ein Regenwaldhaus und eine Minieisenbahn und Elche und Biber und Tiger…

Apropos Elch: Wir haben einen leibhaftigen wahren echten Elch in freier Wildbahn, also auf der Straße, gesehen!!!! Das war auf der Schotterstraße kurz hinter Hørte, etwa 20 km von Grimstad entfernt, an einem Maisonntag, nachmittags um drei. Wir kamen um die Kurve, und da stand er. Oder besser: er ging, um uns Platz zu machen: schwankend, behäbig und doch schnell. Es raschelte noch kurz im Gebüsch, die Sonne schien auf die leere graue Straße, und wir jubelten noch bis nach Grimstad.

 

Osterreise

Wenn man wohnt, wo andere Urlaub machen, ist es günstig, im Sommer zu Hause zu sein, denn dann ist es hier am schönsten  - dachten wir uns und beschlossen, zu Ostern nach Deutschland zu fahren. Die Herausforderung war groß: Zwei mal 900 Kilometer mit drei Kindern im Auto und zwei wenig geübten Fahrern. Nach langem Überlegen und Abwägen buchten wir Fährtickets für den 30. März, Abfahrt 19.15 Uhr in Kristiansand  - Ankunft in Hirtshals 23.45 Uhr. Andreas bekam eine Kabine zum Schlafen und Lisanne hütete die Kinder. Mit Hilfe von genug Essen und noch mehr Comics verging die Zeit. Wie geplant waren die Kinder bei der Ankunft in Hirtshals so müde, dass sie ohne Murren im Auto in ihre Schlafsäcke krabbelten und sechs Stunden tief und fest schliefen, während wir durch das neblig nasse und dunkle Dänemark und den Sonnenaufgang in Schleswig Holstein fuhren. Wir wechselten uns etwa jede Stunde am Steuer ab. Aber als wir vormittags um elf endlich in Oranienburg ankamen, da wollten alle nur noch eins: schlafen!

Es war äußerst merkwürdig, nach fünf Monaten wieder in Deutschland zu sein. Alles war so vertraut und fremd zugleich: das Geld, die Sprache, die Schilder, die Geschäfte, die Lebensmittel…

Unser Programm in Berlin war anspruchsvoll. Wir übernachteten meist getrennt und besuchten tagsüber die verschiedensten Freunde, Bekannten, Arbeits- und Schulplätze – insgesamt schliefen wir bei zehn verschiedenen Familien und haben uns mit mindestens dreimal so vielen verschiedenen Leuten getroffen.

Flora und Frieder wollten unbedingt ihre alte Schule und ihre Klassen besuchen. Wir hatten uns für den letzten Schultag vor den Osterferien angemeldet. Während Frieder unerwartet in ein Piratenfest geriet, hatte Floras Klasse „eigentlich nichts“. Sie war froh, nach zwei Stunden wieder gehen zu können und kommentierte den Besuch so: „Vorher dachte ich ja immer, dass meine norwegische Klasse laut ist, aber jetzt weiß ich es besser.“ 

Felix verwahrte sich entschieden gegen den Gedanken, dem Ludwig-Mies-van-der-Rohe-Gymnasium einen Besuch abzustatten. Ihm gefällt es in Norwegen, das merkt man an seiner ganz neuen entspannten und vergnügten Art. Auf die Frage, was denn in der norwegischen Schule so viel besser sei als in der deutschen, antwortete er: „Die Atmosphäre ist viel freundlicher.“  Traurig, dass wir erst auswandern mussten, um herauszufinden, was für eine bedrückende Wirkung die deutsche Schule auf ihn hatte.

 

Die Hälfte der Osterferien verbrachten wir in Cottbus in Andreas Elternhaus. Aber auch hier waren die Tage angefüllt mit Besuchen, Besorgungen und Erlebnissen. Zwei von Andreas Brüdern wohnen in Cottbus, wir haben Freunde dort, es kam Besuch aus Berlin. Und nicht zuletzt wollten wir Ostereier bemalen, richtige schöne Eier mit sorbischer Wachsmaltechnik. Zum ersten Mal waren auch unsere Kinder mit Feuereifer dabei, was dazu führte, dass es einen heißen Kampf um die sechzig zu bemalenden Eier gab.

Ein paar der Eier haben wir dann in Norwegen als Ostermitbringsel verschenkt. Die Norweger waren ganz begeistert. Andreas hat den Vorschlag gemacht, den ganzen Winter Eier zu bemalen und sie dann vor dem Einkaufszentrum zu verkaufen. Auf jeden Fall werden wir wohl im nächsten Jahr mehrere Malaktionen starten.   

Der Höhepunkt aller Höhepunkte unserer Reise fand am Ostersonntag statt. Nachdem die Kinder die Enttäuschung über die offensichtlich zu klein geratenen Osterkörbchen überwunden hatten (dabei gab es doch so viele hübsche hart gekochte Eier), gingen wir abends alle ins Cottbuser Theater zu „My Fair Lady“. Wir hatten uns vorher den Film angesehen, so dass die Kinder mit der Geschichte und der Musik schon etwas vertraut waren. Und dann saßen sie im Theater – gefesselt von der ersten bis zur letzten Sekunde. Wir Erwachsenen wussten manchmal nicht, ob es spannender war, das Geschehen auf der Bühne oder die Kinder zu beobachten.

Damit das Ganze nicht so schnell in Vergessenheit geriet, kauften wir eine CD mit den Liedern. Da hatten wir uns etwas eingebrockt! Die Kinder wollten diese CD etwa drei Wochen lang mehrmals täglich hören und können nun den größten Teil auswendig. An was auch immer sie sich später  erinnern werden – Eliza Doolittle und Professor Higgins sind bestimmt dabei.

Wie das im Leben so ist, strebte unsere Reise nach dem Höhepunkt ganz schnell dem Endpunkt zu. Unser Auto war bis zum äußersten voll geladen, wir waren angefüllt mit Wiedersehensfreude, Erlebnissen und Abschiedsschmerz und nach einem kurzen Abstecher nach Bremen fuhren wir durch das diesmal sonnenbeschienene Dänemark. Die Kinder waren wach und tatendurstig, was sich in einem entsprechenden Geräuschpegel und mehreren Handgemengen äußerte. Aber die Rettung war nah. Von einer guten, deutschen, aber in Norwegen wohnenden Freundin hatten wir vor der Abreise die Wunschpunschgeschichte von Michael Ende als Hörspiel bekommen. Lisanne hatte sie bis zum Schluss aufgespart, für den Notfall. Und so saßen unsere Kinder dann doch wieder mäuschenstill, und die einzigen Worte, die gewechselt wurden, waren: „Hast Du auch die nächste Kassette?“

Für die Rückfahrt am 15.4. hatten wir die Schnellfähre Silvia Ana gewählt, Abfahrt 17:30 Uhr in Hirtshals, Ankunft bereits 20:00 Uhr in Kristiansand. Das war auch gut so, denn die kleine, schnelle Fähre schaukelte beträchtlich mehr als die große. Immer wieder rannten wir mit einem der Kinder aufs offene Deck, um frische Luft zu schnappen. Hinterher haben sie einstimmig erklärt, dass sie nur noch mit dem großen Boot fahren werden.

Es war ein ganz seltsames Gefühl, wieder nach Norwegen zu fahren. Fahren wir in die Fremde oder nach Hause? Sollten wir nicht doch lieber in Deutschland bleiben oder wenigstens bald zurückkommen? Wo ist eigentlich zu Hause? Das Land? Das Haus? Die Stadt? Die Freunde? Die Familie? So viele Fragen, so viel Unsicherheit. Aber als Andreas den Schlüssel in die Haustür steckte, war alles klar, und am nächsten Morgen begann ein ganz gewöhnlicher Arbeits- und Schultag für uns alle.

 

Hipp, hipp, hurra

Für die Norweger ist der 17.Mai der wichtigste Tag des Jahres. Norwegen gehörte 500 Jahre dem dänischen König, musste aber 1814 als Wiedergutmachung an Schweden abgetreten werden, weil die Dänen leider zusammen mit Napoleon den Krieg verloren hatten. In der kurzen Phase des Unionswechsels schafften es die Norweger, ein eigenes Grundgesetz aufzustellen. Das wurde am 17. Mai 1814 von den „Vätern“ in Eidsvoll unterzeichnet.

Der schwedische König musste die Norweger dann mit ihrer Verfassung übernehmen, was zu immer mehr Parlamentarismus und immer größeren Spannungen führte. 1905 standen Schweden und Norwegen kurz vor dem Ausbruch eines Krieges, aber geschickte Diplomatie, unter anderem von Fritjof Nansen, brachte Norwegen die Eigenständigkeit. In einer Volksabstimmung entschied sich das norwegische Volk mit 99% für die Loslösung von Schweden und in einer zweiten Abstimmung mit 79% dafür, dass Norwegen eine Monarchie wird (oder bleibt). Norwegischer König wurde der dänische Prinz Carl, der zu diesem Zweck den Namen Haakon annahm.

Während die Erreichung eines eigenständigen norwegischen Königreiches keine weitere Beachtung erhält, wird der 17. Mai jedes Jahr mit großem Aufwand gefeiert, seit der Dichter Henrik Wergeland 1833 die erste 17. Mairede hielt. Der wichtigste Bestandteil dieser Feierlichkeiten ist der „barnetog“ (Kinderzug). Alle Schulkinder gehen singend und „Hurra“ rufend mit Fahnen und Blumen in einem großen Demonstrationszug durch die Stadt. In Oslo führt der Zug am Schloss vorbei, wo die Königsfamilie stundenlang geduldig winkend ausharrt. (Einmal wollte Prinzessin Märtha-Louise den 17. Mai in London verbringen. Aufgrund der massiven landesweiten Proteste musste sie rechtzeitig wieder nach Hause kommen.)

Unsere 17.Mai-Erlebnisse begannen schon vor Ostern, als wir eine Vorladung bekamen:

„Alle Eltern von Fünftklässlern treffen sich zur Vorbereitung des 17. Mai Festes der Holvika Grundschule am 30.3. um 17 Uhr. Die Teilnahme ist zwingend.“

Weitere Vorbereitungstreffen fanden am  4. und am 16.Mai statt. 5000 Kleingewinne mussten kostenfrei besorgt werden, jede Familie durfte einen Hauptgewinn für die Lotterie spendieren. Das Ausschmückungskomitee kam mit Fähnchen und Birkenbäumen, das Skolemusikkorps eröffnete einen Cafebetrieb. Und jeder Norweger fragte uns, ob wir uns schon auf den 17. Mai freuen.

Und dann kam der ersehnte (oder gefürchtete?) Tag. Um neun mussten wir in der Stadt unsere Kinder abgeben. Dann jubelten wir ihnen von verschiedenen Stellen am Straßenrand zu, um sie dann verzweifelt im großen Gewühl auf dem Kirchhof zu suchen.

Danach waren wir zu rot-blau-weißer Torte, Eis und Brause bei Freunden in der Stadt eingeladen. Das war eine harte Probe, denn es wurde ein norwegisch-deutsch-englisch-Gemisch gesprochen, je nachdem, wer sich mit wem unterhielt und welcher Sprache(n) kundig war.

Vollgefuttert  machten wir uns mit den Fahrrädern auf den Weg zur Schule. Zu unserem Glück - denn die Feierlichkeiten finden bei jedem Wetter statt - war es sonnig, wenn  auch windig und kühl. In der Schule wurden zuerst einige Reden gehalten: der Rektor sprach, die Fünftklässler mit den gelungensten Reden durften diese vorlesen, das Skolemusikkorps spielte. Nach der Nationalhymne (Ja, wir lieben dieses Land) stürzten die Kinder an die Aktivitäten: Fische angeln, Büchsen werfen, Nägel einschlagen, Ballons mit Pfeilen abwerfen. Die Teilnahme kostete zwei Kronen (25 Cent) pro Versuch.

Zusätzlich und kostenlos gab es Kissenkampf auf einem Balken und Dreirad fahren. Letzteres bewachten wir. Andreas teilte die Dreiräder aus und half den gestürzten Fahrern auf, Lisanne stand neben der Preiskiste und sah verwundert zu, wie Haufen von norwegischen Kindern die Preise um und um wühlten, um dann doch das zu nehmen, was vorher ganz oben gelegen hatte

Nach etwa drei Stunden war der Spuk vorbei. Alle eilten nach Hause, um pünktlich um fünf wieder in der Stadt zu erscheinen, denn diesmal gab es den „Bürgerzug“ – alle Vereine und Gruppierungen des Ortes zogen durch die Innenstadt. Das Einkaufszentrum hatte einen Preis für die engagierteste Darbietung ausgelobt, was die Teilnehmer zu kreativen Höchstleistungen beflügelte. Die Sportler kickten Bälle, schlugen Saltos und warfen sich im Takt ihre Hockeyschläger zu, die Schauspielerinnen schwebten als Prinzessinnen oder Katzen vorbei, die Landjugend warf gekeimte Kartoffeln vom Traktor, weiß gekleidete Propheten schleppten schwer an Bibeln und Sinnsprüchen, Musikkorpse und Bands spielten sich heiß.

Angeführt wurde das Ganze, wie auch schon der Kinderzug am Morgen, von Flaggenträgern und dem städtischen Festkomitee.  Das bestand aus Damen und Herren besten Alters, die die Menge zu lautstarken „Hipp, Hipp, Hurra“ Rufen aufforderten. Die meistens Menschen waren sehr festlich gekleidet. Viele trugen den „bunad“, die norwegische Nationaltracht. [1]

Abends gab es noch eine Reihe Feierlichkeiten, die von den verschiedensten Gruppierungen für ihre Mitglieder ausgerichtete wurden. Aber da saßen wir schon längst gemütlich bei Tee und Kuchen in unserem Wintergarten.

 

Die Russen kommen

Am Vormittag des 17. Mai war eigentlich noch mehr los - allerdings hatten wir zugunsten von Torte und Eis auf den Festgottesdienst verzichtet, genauso wie auf die Russendemonstration. Ein „russe“ ist so etwas Ähnliches wie Abiturient, also ein Schüler der Abschlussklasse einer weiterführenden Schule, die hier Gymnasium oder Berufsschule sein kann. Russen haben spezielle Latzhosen an: blaue für die von einer Wirtschaftsschule, rote für Schüler der allgemeinbildenden Schule und schwarze für die Berufsschulen. Die Hosen sind bemalt und beschrieben und oft hängt der Latz nach unten. Dazu gibt es noch Pullover und vor allem Mützen, für die man sich Knoten und Anhängsel verdienen kann. Die dazu nötigen Tätigkeiten bestehen z.B. darin, in der Mitte eines Kreisverkehrs oder im Straßengraben zu übernachten, einen fremden Autofahrer an der Kreuzung zu küssen oder in dessen Auto über die Rückbank zu kriechen, einem Lehrer heimlich das Frühstück zu machen, kästenweise Bier auszutrinken und ähnliches. In der Zeitung wurde von Russen geschrieben, die Geld für gute Zwecke sammeln, aber auch von welchen, die andere Schulen mit Wasserpistolen, Essigflaschen und faulen Eiern überfallen, sich und andere verprügeln und eine Menge öffentlicher Plätze verdreckt zurücklassen. Wir haben vor allem Russen mit riesigen Wasserpistolen im Anschlag gesehen, und massenhaft Kinder, die sich begeistert auf dieses Freiwild stürzten.

Russen haben einen Präsidenten, einen eigenen Russenamen, spezielle Visitenkarten, massenhaft Feste und, wenn möglich, sogar ein Russebil, also ein rotes, meist älteres und eigenhändig verziertes Auto. Es gibt jedes Jahr ein großes landesweites Russetreffen in Kongsberg, wo das schönste Russebil gekürt wird.  [2]

Das Russendasein muss natürlich finanziert werden, was manchmal Schwierigkeiten bereitet. Die Zeitungen berichteten tagelang empört davon, dass einige der jungen Damen das Geld für ihr Russenauto für die Teilnahme an Dreharbeiten beim norwegischen Pornokönig bekommen hätten. Der wiederum ließ sagen, dass er sich vor Anfragen gar nicht retten könnte, speziell von Russen. Zum Schluss stellte es sich heraus, dass

a) der Pornokönig als privater Gast auf einem der Grimstader Russenfeste gewesen war, und dass

b) eins der Grimstader Russenmädchen aus Vergnügen und ohne Bezahlung in einer Nichtsexszene mitgespielt hatte, und dass

c) sie diese Szene nach ernsthaften Gesprächen mit den Eltern nun aus dem Film herausschneiden lassen wird.   

Die Russenfeierlichkeiten schließen mit einer durchwachten Nacht vom 16.zum 17. Mai und der anschließenden Russenparade ab. Am Tag danach beginnen dann die Abschlussprüfungen.       

 

Besuch und Fisch

Im Mai rollte die erste Besucherwelle bei uns an. Andreas hatte zweimal Arbeitsbesuch aus Deutschland, mit dem er beim Angeln oder in Oslos Museen die neuesten Projekte besprach. Lisanne Vater war da und malte norwegische Landschaften, und die ersten Freunde und Kollegen gaben sich die Klinke in die Hand. Nach vier Wochen mit Besuch ohne Pause stellten wir fest, dass wir uns die ganze Zeit weder mit den Kindern noch untereinander in Ruhe unterhalten hatten und auch der Aufräumzustand unserer Wohnung sehr zu wünschen übrig ließ.

Da können wir also noch etwas hinzulernen für den großen Sommeransturm: wie genießt man den Besuch und hat trotzdem noch Zeit für das eigene Leben? Besuch bedeutet neben der Arbeit ja auch immer wieder neue Erlebnisse, Ablenkung, viel gute Gespräche, Nachrichten aus Deutschland, Festessen… Man kann mit seinen Orts- und Sprachkenntnissen brillieren, seine Hilfsbereitschaft zur Höchstform auflaufen lassen und sich in den bewundernden Ausrufen über unser schönes Haus, die tolle Gegend, die Ruhe, die wohl erzogenen Kinder, den frischen Fisch und die unzähligen Blaubeersträucher sonnen.

Mit Achim waren wir das erste Mal im Dyreparken, dem Tier- und Vergnügungspark in Kristiansand. Mit Andreas K. bewunderten wir unseren ersten Elch in freier Wildbahn, Hans und Olga haben unsere Kinder getröstet, als Lisanne den armgebrochenen Andreas zum Krankenhaus fuhr, Katrin und Mario erforschten Bootsfahr-und Fischfangmöglichkeiten.

Das war natürlich ansteckend. Wir wollten auch mal wieder Fische fangen oder Boot fahren. Zusammen mit Achim hatte Andreas es das erste Mal seit drei Monaten  geschafft, wieder einen Fisch an Land zu ziehen und somit zu beweisen, dass die Angel noch funktioniert. Es war übrigens nicht nur ein Fisch, sondern es waren fünf. Diesmal war neben den üblichen Seelachsen auch noch ein Dorsch dabei. Der schmeckt vielleicht gut!

Mit dem Boot fahren ist es dagegen nicht so einfach. Andreas kriegt zwar immer genauer raus, was für ein Boot er haben will, wie groß es sein soll, wie stark, und was man alles hinten ranhängen können muss, aber von Gedanken allein kann man eben doch noch nicht losfahren. Mitte Juni hatte Andreas mit Felix einen Wochenendausflug an die Nordspitze von Dänemark auf einem großen Segelschiff geplant, das fiel aber leider ins Wasser: einarmige Leichtmatrosen werden nicht mitgenommen.

Doch die Alternativen sind schon in Sicht: der Nachbar hat sein 14 Fuß Boot in ein 24 Fuß langes umgetauscht und uns angeboten, mit uns zum baden und Grillen zu fahren. Außerdem wollen Eva (Felix Norwegischlehrerin) und Harald (ihr Mann und ein Kollege von Andreas) uns mal mit in ihr Sommerhaus nach Hellesund (einer Insel vor Kristiansand) nehmen. Und wenn uns das nicht reicht, können wir auf der „Solrik“, einem wunderschönen Zweimaster, mitfahren, denn der fährt im Sommer fast jeden Tag die Piraten und Touristen im Grimstader Schärengarten herum.

Die Piraten? Wir haben dieses Jahr Piratensommer im Sørland (Südland). Unsere Kinder sind bereits eifrig dabei, Goldmünzen zu sammeln: es gibt 50 verschiedene Schatzkisten, die natürlich über die gesamte Region verteilt sind, also ein guter Grund, mehr von der Gegend kennenzulernen. Und zusätzlich werden noch jede Menge Seeräuberarrangements angeboten: Piratentanz, Raubzüge zu Land und  Wasser, Lagerfeuer, Ausstellungen, Kino, Theater...

  

Test und Fest

Lisannes Norwegischkurs (siehe Bericht 2)  näherte sich nach unserem Osterurlaub seinem Höhepunkt: dem Abschlusstest. Zusammen mit einer deutschen und einer rumänischen Studentin hatte Lisanne die letzten Wochen stapelweise Aufsätze geschrieben, Zeitung gelesen, Radio und Hörtexte gehört, Grammatik gepaukt und sich in norwegischer Geschichte und Gesellschaftskunde weitergebildet.

Jeden Vormittag gab es zwei vollgepackte Stunden Unterricht bei John Landrø, und für den Nachmittag eine lange und freiwillig zu erledigende Liste noch zu lesender, lernender oder schreibender Aufgaben. John, seines Zeichens norwegischer Philologe, Englisch- und Deutschlehrer, erwies sich als Universalgenie. Er hatte nicht nur die richtigen Bücher, er fand nicht nur die passenden Texte und Informationen, er konnte uns nicht nur erklären, woher die Wörter kamen und wie sie sich entwickelt hatten, er kannte nicht nur die ganze norwegische Geschichte von Snorre Storlasson bis Staatsminister Bondevik im Detail,  er löste nicht nur Aufenthalts- und Daseinsprobleme – er hatte auch noch die Gabe, uns das Ganze lebendig und interessant zu vermitteln. Der Nachteil war, dass wir oft nicht merkten, dass wir dabei ständig unsere Norwegischkenntnisse verbesserten und entsprechend deprimiert und unzufrieden rumschlichen. Denn unser Ziel war ja: so gut Norwegisch zu können, dass wir beim Bergenstest genug Punkte bekommen, mindestens 450 von den möglichen 700.

Der Test wird etwa dreimal im Jahr zentral an etwa 10 Orten in Norwegen durchgeführt. Man muss sich rechtzeitig anmelden und 1000 Kronen (125 Euro) bezahlen. Dafür darf man dann früh um 9.30 Uhr am Testort erscheinen, seinen Pass vorzeigen, sich „Kopie“ auf die Hand stempeln lassen und den vorgegebenen Platz mit der eigenen Nummer einnehmen.

Alle Arbeitsblätter sind mit dieser Nummer versehen, aufs Klo darf man nur mit Aufsicht und das Ganze dauert etwa 6 Stunden inklusive 20 Minuten Pause.

So professionell sich diese Auflistung anhört, so unprofessionell war die Durchführung.

In Kristiansand, wo wir den Test machen wollten, waren etwa 100 Testteilnehmer. Diese wurden per Zuruf in einem zugigen Flur in drei Gruppen aufgeteilt, und in drei verschiedene Gebäude auf dem HiA Campus geführt. Wir fanden unseren Raum schon nach dem dritten Anlauf. Dann kam die Prozedur mit Pass und Unterschrift und Stempel und dann - kam nichts.

Der Test sollte eigentlich um zehn beginnen, um dreiviertel elf hatten dann alle den richtigen Raum gefunden, und es konnte wirklich losgehen. Die Lesetexte waren nicht zu schwer, allerdings waren beim „Wörterraten“ (eins von Vieren ist das Passende) ein paar Gemeinheiten versteckt, unter anderem eine Fremdwörterliste, die Lisanne nicht mal auf deutsch zuordnen konnte. Der Hörtext war katastrophal – wegen der Akustik. Die Wörter kamen irgendwie doppelt, aber ganz schnell hintereinander, so dass der ganze Text wegrauschte. In der Pause ging Lisanne zur Aufpasserin und verlangte, dass sie noch mal die Einstellungen des Geräts überprüft. Das erwies sich als erfolglos, lockte aber einen Vertreter des männlichen Geschlechts an. Der drehte das Gerät um, so dass der Lautsprecher in den Raum statt auf die Tafel zeigte. Das Interview (der nachfolgende Prüfungsteil) war fabelhaft zu verstehen!

Den Abschluss der Prüfung bildete die „freie schriftliche Produktion“, auf Deutsch kurz „Aufsatz“ genannt. Wir bekamen vier Themen, von denen man eins auswählen sollte: Realkompetenz (warum es gut ist, dass Leute studieren dürfen, die kein Abitur, aber entsprechende Berufserfahrung haben), Beschreibung eines Filmes (Inhaltsangabe, Botschaft, Thematik und Schauspieler), Gedichtinterpretation samt Diskussion über mobiltelefonierende Menschen und als letztes Thema: Norwegen und die EU mit einer Grafik zum Auswerten. Über dieses Thema hatten wir viel gelernt und gelesen, aber keine von uns wollte darüber schreiben. Man sollte nämlich die Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts für Norwegen aus norwegischer Sicht diskutieren. Nachteile hätten wir ja noch gewusst, aber Vorteile?     

Lisanne hätte gerne über einen Film geschrieben, meinte aber, dass sie für Botschaft und Schauspieler nicht genug Informationen (oder Fantasie) besaß. Also wurde es eine gediegene Abhandlung über den Nutzen und die Gefahren von Mobiltelefonen, inklusive eigener Erlebnisse – denn Lisanne hat ja zum Geburtstag im März ihr erstes Mobiltelefon bekommen. Von dem sie noch nicht mal die Nummer kennt….

Die Prüfungsunterlagen werden zentral in Bergen ausgewertet, und schon nach sechs Wochen erhält man das Ergebnis. Unsere Ergebnisse kamen sogar schon nach fünf Wochen  - vorläufig und mit der Möglichkeit, den Test kostenlos am Ende der nächsten Woche zu wiederholen, weil sich so viele über die schlechten Testbedingungen beschwert hatten. Aber das hatten wir nicht nötig. Florentina und Thedda bekamen jeweils 600 Punkte, und Lisanne das beste Ergebnis aller Zeiten: 650 Punkte[3]. Mit 700 Punkten kann man Norwegisch wie ein Muttersprachler…

Wir haben natürlich Feste gefeiert und freuen uns nun auf den langen, erholsamen Sommer. 

 

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[1] Es gibt eigentlich nicht nur eine Tracht, sondern hunderte, denn jede Gegend hat ihre eigenen Muster und Schmuckvarianten, die genauestens eingehalten werden. Einen Bunad muss man streng nach Anweisung und zum großen Teil per Hand nähen, sticken und gegebenenfalls mit Perlen besetzen. Man darf nur die weiße, mit Mäusezähnchen und Knötchenstickerei versehen Bunadbluse dazu anziehen, man sollte eigene Schuhe dafür haben, es gibt Regeln, wie man einen Bunad (in einer eigenen Stofftasche) aufbewahrt. Kurz gesagt, behandelt man einen Bunad genauso ehrfurchtsvoll wie die Nationalflagge. Das ist vielleicht auch vernünftig, denn eine komplette Tracht kostet um die 40 000 Kronen (5000 Euro), und da ist der Silberschmuck noch nicht mitgerechnet. Dafür ist man mit diesem Kleidungsstück, das normalerweise auf „Zuwachs“ genäht wird, auch für alle Eventualitäten des Lebens gerüstet. Ob Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung oder 17. Mai, der Bunad ist das passende Kleidungsstück. Und vor allem: falls man mal vor dem König erscheinen darf, was trägt man da? Einen Bunad natürlich!

[2] Im Zusammenhang mit diesem Fest passieren immer irgendwelche Unglücke. Dieses Jahr krachte ein Russebil auf der E18 direkt vor der Einfahrt in den Vestre Grøm gegen ein Verkehrsschild…

[3] John hat mit den Testauswertern in Bergen gesprochen. Die meinten, dass 600 Punkte durchaus schon mal vorkommen können, insbesondere, wenn man zwei Jahre lang im Land gelebt und guten Unterricht gehabt hat.