Die Zeit vergeht

Da ist doch tatsächlich ein halbes Jahr seit dem letzten Bericht verstrichen, wohl gefüllt mit Ereignissen aller Art. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen: wir sind so mit dem Alltag beschäftigt, dass keine Zeit mehr für die Rückschau bleibt.

Auf jeden Fall geht unsere Eingewöhnung in großen Schritten voran. Und damit aus diesem Bericht nicht gleich drei werden, schreiben wir nur über die großen Ereignisse der letzten Monate, sortiert nach Personen.

Andreas

Zur Freude der ganzen Familie genießt Andreas weiter seine Arbeit an der HiA. Das Wintersemester (August bis Dezember) war vollgestopft mit Aktivitäten, die sich zu einem großen Teil auf die Organisation des einen EU-Projekts bezogen und zum anderen auf die Beantragung eines neuen. Dazu kam natürlich noch eine Unzahl weiterer nicht ganz so internationaler Projekte.

Nebenbei gab es noch ein paar kleine Kleinigkeiten, zum Beispiel die Einarbeitung von Sekretärinnen. Andreas hat jetzt schon die dritte, nicht, weil er sie so schnell verschleißt, sondern weil das Arbeitsamt im Moment gerade seine Sekretärinnenstelle als Probeplatz für Arbeit suchende Kandidatinnen benutzt. Wenn die eine „richtige“ Arbeit finden, sind sie weg und jemand Neues fängt bei Andreas an.

Außerdem hat Andreas seine Lieblingskonferenz, das SDL-Forum, im Juni 2005 nach Grimstad eingeladen. Das ist zum einen eine sehr große Ehre für unsere kleine Stadt, aber auch eine riesengroße Aufgabe für Andreas. Zunächst sah alles ziemlich einfach aus, weil die HiA eine professionelle Abteilung hat (in Kristiansand), die sich mit der Organisation von Geld bringenden Aktivitäten, zu denen auch Konferenzen zählen, beschäftigt. Andreas machte also einen Vertrag mit Filonova[1] und war erstmal zufrieden. Leider stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass Filonova doch nicht ganz so professionell ist. Der nervliche Stress damit ist mindestens ebenso groß wie der zusätzliche Aufwand an Arbeit. Immerhin haben sich inzwischen schon 63 von den erwünschten 60 Teilnehmern fest angemeldet und viele Kleinigkeiten trudeln so langsam an ihren Platz.

Obwohl das hier Andreas’ Kapitel ist, kommen wir an dieser Stelle zu Lisanne. Andreas hatte ihr so nahe gelegt, dass sie bei den Konferenzvorbereitungen einen wichtigen Beitrag leisten kann (die lokalen Angelegenheiten nämlich), dass wir nun doch nicht nur zusammen wohnen, sondern anteilig auch arbeiten. Das tun wir vorzugsweise abends zwischen ½ 10 und ½ 11, wenn Andreas aus der HiA zurück ist und die Kinder schlafen.

Lisanne hat die Organisation der sozialen Aktivitäten samt der Beköstigung und dem Konferenzbüro übernommen und auf diese Weise alle Hotels in Grimstad, eine  Menge neuer Ausflugsmöglichkeiten, verschiedene Künstler und eine Menge anderer interessanter Menschen kennen gelernt.

Schade, dass ihr nicht zur Konferenz kommt[2]! Montags gibt es eine Stadtführung,  Dienstag ist Grillabend und Bierverkostung mit der lokalen Brauerei (Nøgne Ø), Mittwoch großes Bankett mit Unterhaltung und Donnerstag als absoluter Höhepunkt eine Kreuzfahrt im Schärengebiet zur Bewunderung all der für den Mittsommerabend (Sankt Hans) geschmückten Boote und der vielen lodernden Feuer, die angezündet werden, wenn es endlich wenigstens ein bisschen Dunkel wird, so gegen halb elf …

Daran sieht man, dass Wissenschaftler nicht nur arbeiten.

Andreas zum Beispiel geht weiterhin angeln, nicht so oft, wie er möchte, aber immerhin ab und zu. Außerdem kennt er jetzt einen Kollegen, der begeisterter Fischefänger ist und den ganzen Winter sein Boot unten im Hafen benutzt hat. Frieder war schon zweimal mit, Andreas einmal. Von diesem Ausflug kamen sie mit zwei mittelgroßen Brosmen und vier großen Dorschen zurück. Brosmen sind eine Art Edeldorsch mit ganz festem Fleisch, sehr wohlschmeckend und ausgewachsen etwa doppelt so groß und schwer wie gewöhnliche Dorsche. Mittelgroß bedeutete also: etwa siebzig Zentimeter lang, einige Kilo schwer und ausreichend für zehn Personen pro Fisch. Und dafür waren sie nur einmal mit dem Boot draußen. Unsere Tiefkühltruhe enthält jetzt ein deutliches Übergewicht an Fisch, während sie früher hauptsächlich mit Obst und Gemüse gefüllt war. Inzwischen kann Andreas ganz toll Fische filetieren und wunderbare Fischbrühe herstellen. Er machte daraus rote Fischsuppe und ich helle, und den Rest haben wir verschenkt.

Da im Winter nicht so viel im Garten zu tun ist, hatte Andreas auch mal Zeit für gesellschaftliche Aktivitäten. Zunächst entdeckte er, dass der Nachbar Samstagnachmittag Hallenfußball spielen geht, und wenn einer von uns dran denkt, geht Andreas mit. Nach dem ersten Mal mussten wir gleich neue Trainingshosen kaufen, weil die alten auf dem Parkett verschmorten.

Außerdem annoncierten im September stapelweise Chöre, dass sie neue Mitglieder suchen. Andreas suchte sich einen aus, der an einem Abend stattfand, wo wir noch keine festen Termine hatten und landete dadurch bei der Herrecompagniet Trass. (LINK?)

Das ist ein Männerchor, der aus einem musikalischen Kabarett hervorgegangen ist und in seinem altbewährten und beliebten Stil gerade für ein aufregendes Weihnachtsprogramm zu proben begann. Andreas war fleißig mit dabei und konnte bis zur Vorstellung im Dezember als einer der wenigen immerhin die Texte. Mit den Melodien war es etwas schwieriger, denn es gab nicht zu allen Liedern Noten, weil es sich um bekannte norwegische Weihnachtslieder handelte. Außerdem ist es relativ schwierig, eine Melodie zu lernen, wenn um einen herum vierstimmig gesungen wird.

Nun, alle diese Schwierigkeiten waren vergessen, als die Sänger in weiße Laken gehüllt und mit Kerzen in den Händen zu „Santa Lucia“ in den Saal einmarschierten, dabei aber nach kurzer Zeit vom Orchester überrumpelt wurden, das von der Seite kam und einen fröhlichen Marsch spielte. Der Abend setzte sich auf diese Weise fort, im Spannungsfeld zwischen schöner Musik und hinreißender Komik. Stellt Euch vier kräftige Kerle vor, die mit Baströckchen und Weihnachtsmannmützen bekleidet zu  einem Schlager („Es ist hart, ein Weihnachtsmann zu sein“) á la Moulin Rouge zu tanzen versuchen.

Oder den Sandmann, der lächelnd Glitzersand verpustete und Sprüche über die Missstände in der Kommune zum Besten gab. Oder die Männer mit (Plüsch-)Rentieren auf dem Kopf, mit leuchtenden Lichterketten geschmückt, allen voran Rudolf mit der roten Nase. Und so weiter. Es war schön. Sehr schön. Andreas war sogar in der Zeitung, ganz unten in der rechten Ecke passte sein Kopf noch mit auf das Bild der Baströckchen schwingenden Helden.

Und wenn Andreas nicht singt, verwaltet er manchmal unsere Webseiten: www.prinz.no. Ist das nicht ein schöner und passender Domänenname? Andreas war ganz begeistert, als er herausgefunden hatte, dass der noch frei war. Frei bedeutete allerdings nicht käuflich, denn hier dürfen Domänen nur von Betrieben, Vereinen oder anderen öffentlichen Institutionen erworben werden. Lisanne lehnte es als übertriebenen Aufwand ab, zum Erwerb des Namens eine eigene Firma aufzumachen, zumal die steuerlichen Auswirkungen im norwegischen Rechtsdschungel für uns nicht im Geringsten abschätzbar waren. Wir überlegten, ob wir Jemanden mit einer eigenen Firma kannten, den wir bitten konnten, die Domäne zu kaufen, aber die endgültige Lösung war viel eleganter. Andreas fand einen gemeinnützigen Verein, dessen Ziel es war, Domänen für alle die zugänglich zu machen, die Interesse daran haben. Dort sind wir nun Mitglied und können unsere Seite mit dem schönen Namen mieten.

Eine weitere interessante Aktion hatte mit dem Garten zu tun, obwohl sie im Winter stattfand. Wir hatten nämlich nach einiger Diskussion festgestellt, dass wir den großen Baum (15m) direkt neben dem Wintergarten (2m entfernt) doch lieber etwas verkleinern lassen wollen. Der erste Vorschlag kam von Andreas, und meinte eine Kürzung auf 3m. Einen ähnlichen solchen Baum haben wir auf der anderen Seite neben dem Wintergarten zu stehen, und der ist hübsch mit Efeu zugewachsen und sieht recht beachtlich aus.[3][4] Aber das war noch nicht das Ende der Diskussion. Nach einem Ortstermin stellte sich heraus, dass die richtige Länge wohl eher der Dachhöhe entspricht, also so etwa 2m. Nachdem wir uns das versuchten vorzustellen, und auch mit dem anderen Baum verglichen, war klar, dass dann über kurz oder lang der Durchgang nicht mehr möglich sein würde (wegen der Breite des Efeu). Und warum sollte der Baum da überhaupt übrig bleiben? Also nächste Variante: Ganz weg. Da kam dann noch eine Weile lang die Diskussion, ob man wirklich so brutal sein kann, aber schließlich war klar: Der Baum soll komplett weg. Nur: wie macht man das? Wenn er in die falsche Richtung fällt, ist schließlich der ganze Wintergarten im Eimer, was nicht so prima ist (vor allem im Winter, obwohl es doch ein Wintergarten ist). Helge kannte ein paar Freude, die uns Material ausborgen wollten, mit dem man den Baum hochklettern und von oben scheibchenweise abtragen konnte. Dagegen legte Lisanne erstmal ihr Veto ein – das sah doch zu riskant aus für einen ungeübten Andreas. Nach längerem Hin und Her fanden wir eine Firma, die das für uns übernahm, und tatsächlich den Baum von obern nach unten zerlegte. Insgesamt ziemlich professionell.[5] Wir wollten den Baum danach selber zerhacken, nachdem er in Scheiben vor uns lag. Wir kauften uns eine Axt und ein Beil und danach freuten sich Andreas und die Kinder monatelang am Zerhacken der Klötze. Insbesondere die Jungs machten da gerne mit. In der Zwischenzeit hat Andreas noch weitere kleinere Bäume abgesägt, die jetzt noch zersägt und dann auch noch gehackt werden müssen. Es scheint an der Zeit zu sein, mal eine Motorsäge anzuschaffen … und neue Äxte, denn die ersten haben ihr hartes Leben bereits ausgehaucht – Stielbruch.

Lisanne

Im Gegensatz zum immer beschäftigten Andreas war Lisanne nach dem Abschluss ihres Norwegischkurses arbeitslos. Na gut, da gab es noch den Haushalt und die Kinder, aber da letztere schon ziemlich groß sind und ersteres deshalb aus Gewöhnungsgründen selbst organisieren lernen sollen, fand Andreas, das Lisanne sich schleunigst eine vernünftige Beschäftigung suchen musste.

Leicht widerwillig besuchte Lisanne das städtische Arbeitsamt. Es gab durchaus ein paar zu besetzende Stellen, aber die meisten davon erforderten einen Schweißerpass, medizinische Kenntnisse oder verkäuferische Qualitäten. Da Lisanne nichts davon besitzt, fielen diese Varianten schon mal ins Wasser. Was dann? Nun, einen Job als Reinemachefrau in der HiA gab es noch. Lisanne hat ja eine Ausbildung als Hauswirtschafterin, das passte ganz gut. Aber der Stolz spielte nicht mit. Wenn schon Reinemachen, dann bitte nicht dort, wo der eigene Mann als Professor arbeitet. Ums Geld ging es ja sowieso nicht, sondern ums Prinzip.

Als eine prinzipiell zulässige sinnvolle Beschäftigung hatte Andreas vorgeschlagen, dass Lisanne auch ein Buch schreiben könnte. Lisanne durchforstete also, zunächst sehr lustlos, aber dann immer mehr überrascht, die Ergebnisse ihrer Schreibschule von „damals“.  2001 hatte sie nämlich den Grundkurs der „Schule des Schreibens“ an der Axel-Anderson-Akademie gemacht und danach ein Jahr Belletristik. Die Übungsaufgaben hatten den Umzug nach Norwegen überstanden und warteten nun geduldig auf ihre Wiederverwertung. Unter ihnen befand sich sogar die Vorlage für einen Roman inklusive Beschreibung der Hauptfigur und einer Kurzzusammenfassung für jedes einzelne Kapitel.

Dem Druck gehorchend, entstand so im Juli das erste Kapitel – und es machte so unendlich viel Spaß es zu schreiben! Also dachte Lisanne: wenn ein Kapitel geht, gehen vielleicht auch drei. 

Aber leider war inzwischen September und Lisanne reiste für eine Woche nach Berlin. Höhepunkt dieser Woche war das Klassentreffen mit ihrer Abiturklasse von der Spezialschule, zum ersten Mal nach 19 Jahren! Es war ein wunderschöner und spannender Abend. Was Lisanne am beeindruckendsten fand, war, dass die meisten der ehemaligen Mitschüler immer noch so aussahen wie früher und auch denselben Kleidungsstil beibehalten hatten. Wer vor 20 Jahren pastellfarbene Strickpullover gemocht und getragen hatte, tat das immer noch, und wer viele Ketten trug, über einen besonders glatten bzw. struppigen Pferdeschwanz verfügte oder Turnschuhe als einzige zulässige Fußbekleidung definiert hatte, erschien in ebendiesem Outfit zur Party.

Der Rest der Woche verging mit Einkäufen und Besuchen bei lieben Freunden rasend schnell, ebenso wie die darauf folgenden Wochen in Grimstad. Nachdem die Wäscheberge beseitigt und alles wieder alltagstauglich eingerichtet war, waren Herbstferien, Felix feierte Geburtstag und wir bereiteten uns auf die nächste Reise nach Deutschland vor.

Diesmal ging es mit der ganzen Familie nach Cottbus, Anfang November zum 65. Geburtstag von Andreas Mutter. Trotz intensiver Diskussionen wurde es wieder eine Nachtfahrt. Freie nächtliche Straßen sowie die Durchfahrt durch Hamburg außerhalb der Arbeitszeit und nicht zuletzt tief und fest schlafende Kinder waren nicht zu schlagende Argumente. Aber müde war es doch!

Dafür hatten wir auf der Fährte von Kristiansand nach Hirtshals eine Vier-Bett-Kabine gebucht, die wir von 20 bis 23 Uhr (eine Stunde vor der Ankunft, damit noch saubergemacht werden kann) zum Vorschlafen nutzen durften. Leider wurde den Kindern vom Lesen im Liegen schlecht. Frieder jammerte, bis er vor Erschöpfung einschlief. Felix und Flora dagegen setzten mehr auf frische Luft. Sie verließen also die Kabine, untersuchten die Außenaufbauten des Schiffes bis sie völlig durchgefroren waren, kamen schwatzend und lachend den Gang  zur Kabine hinaufgetrappelt, aßen etwas oder lasen ein wenig, bis ihnen schlecht wurde und sie wieder raus aufs Deck gingen, während Andreas und Lisanne auf den Betten lagen und so taten, als ob sie schliefen.

Die Kinder waren tatsächlich so müde von diesen Erlebnissen, dass sie sich kurz nach Mitternacht zufrieden in ihre Schlafsäcke im Auto kuschelten und erst 80 Kilometer vor Berlin wieder wach wurden. Dazwischen lagen acht lange, neblige und dunkle Stunden auf der Autobahn für Andreas und Lisanne. Das letzte Stück bis nach Cottbus konnten wir dann im Hellen fahren und gegen Mittag endlich in die für uns bereitstehenden Betten fallen. Es war sehr merkwürdig, um Berlin herumzufahren, ohne dort anzuhalten. Eigentlich sind wir doch dort zu Hause? Immerhin übernachten wir nach vier ereignisreichen Tagen in Cottbus noch eine Nacht in Berlin, bevor wir uns auf den langen Weg nach Norwegen machten. Immer noch ist es schwer zurückzufahren, jedenfalls bis Dänemark. Danach setzt die Vorfreude auf Zuhause ein, auf unser Haus und unsere Hasen, auf die Schule und die Freunde, auf die immer wieder unglaublich schöne Landschaft und die fantastischen Lichtverhältnisse. Der letzte November war wesentlich trockener und sonniger als der erste, den wir hier erlebt hatten, und so waren auch wir viel vergnügter und zufriedener.

Außerdem ist es immer wieder äußerst spannend, die Zunahme der Dunkelheit zu beobachten. Irgendwie geht es hier schneller als in Deutschland.

Am 21. Dezember 2004 konnte man folgendes im Wetterbericht lesen:

„Die Sonne geht 9.13 Uhr auf und 15.35 Uhr unter. Die Morgendämmerung  (wörtlich übersetzt: das Morgengrauen) beginnt 8.20 Uhr und die Dämmerung endet 16.28. Die Länge des Tages beträgt 6 Stunden und 22 Minuten. Der Tag ist 11 Stunden und 55 Minuten kürzer geworden seit der Sommersonnenwende.“

Wenn man das auf den Sommer umrechnet, heißt das, dass wir hier im Juni eine Tageslänge von etwa 18,5 Stunden haben plus jeweils etwa eine Stunde Dämmerung morgens und abends. (Und wir sind im Süden Norwegens, in allen anderen Gegenden ist es also deutlich länger hell.)

Im Winter, besonders im Januar und Februar, kann man auch immer wieder Sonnenuntergänge erleben, bei denen sich der gesamte Horizont in allen Himmelsrichtungen in den leuchtendsten Farben von zartrosa bis blutorange färbt, ein Schauspiel, das jedes mal aufs Neue zum Verweilen und Staunen einlädt.

Im Februar hatten wir dieses Jahr sogar noch extra Glück, auf Grund besonders kräftiger Sonnenprotuberanzen konnten wir nämlich auch etwas vom Nordlicht sehen, das es sonst nur viel weiter „Oben“ gibt. Und Nordlicht ist sehenswert! Grüne und rosa Streifen säumten den dunkelblau-schwarzen Himmel, wechselten ihre Farbe und die Plätze …

Unser Nachbar, der aus Trondheim kommt, meinte zwar, dass das nur ein Babynordlicht war und nicht mit echtem nordischen Nordlicht zu vergleichen ist, aber wir fanden es schön.

Wieder in Norwegen angekommen, hatten die Kinder noch ziemlich viel Schule bis Weihnachten und eine Menge außerschulischer Aktivitäten. Lisanne besuchte einen Besucherdienstkurs vom Roten Kreuz, damit sie auch mal Gelegenheit hat, unter Menschen zu kommen. Nach Abschluss dieses Kurses, der aus fünf Abendveranstaltungen bestand, hatte Lisanne das Recht, im Namen des Roten Kreuzes Menschen zu besuchen, die das wünschten.

Es fand sich auch eine Dame in einem der örtlichen Altersheime, die seitdem immer mal wieder in ihrem Rollstuhl an die frische Luft verschleppt wird oder Lisanne olle Kamellen aus der Grimstädter Vorzeit erzählt.

Tatsächlich blieb neben all diesen Aktivitäten sogar noch ein wenig Zeit zum Schreiben übrig, so dass die Zahl der aufgeschriebenen Kapitel von 7 (Ende November)  auf 9 (Ende Dezember) stieg.

Dafür verzichteten wir diesmal auf eigene Adventsaktivitäten. Die Kinder traten mit der Musikschule und dem Sport bei Weihnachtsvorstellungen auf, Floras Bilder wurden von der Kunstschule ausgestellt, die Schulklassen hatten Aktionsadventskalender und Andreas beschloss am zweiten Advent, dass jetzt die geeignete Zeit sei, endlich den Teppich in der Küche herauszureißen und Parkett zu verlegen.

Lisanne protestierte zwar, aber nur schwach, denn Andreas konnte schlüssig beweisen, dass es niemals eine geeignete Zeit geben würde außer der gerade angebrochenen.

So plante also Lisanne das Weihnachtsmenü, denn wir sollten Besuch von der fünfköpfigen Familie Stock aus Cottbus erhalten; und Andreas hämmerte die Leisten zusammen. Später fanden wir heraus, dass unsere Bodenleisten eine Montagsproduktion ohne Click-Clack-Verschluss waren, dass man sie eventuell anders herum hätte verlegen können wegen der Kraftübertragung und weil die Unterbauten am Ende der Küche leider nachgaben und keinen so richtig glücklichen Abschluss mit dem neuen Fußboden bilden wollten, aber am 21. Dezember, wenige Stunden bevor der Besuch anrollte, waren wir fertig und der Boden betretbar.

Die Weihnachtszeit wurde wunderbar. Die sechs Kinder verstanden sich ebenso prächtig wie die Erwachsenen, an Erlebnismöglichkeiten und gutem Essen mangelte es nicht und zum Schluss gab es noch ein fantastisches und feuerwerkreiches Silvesterfest.

Für das schönste Geschenk von Flora und Frieder war es ein Segen, dass die Stocks da waren. So konnte nämlich in jedem Auto eins von den Kindern mit seinem neuen Walkie-Talkie fahren und so sinnige Sätze hineinsprechen wie:

„Wo bist Du?“

„Im Auto? Und Du?“

„Auch im Auto. Wir fahren zum Tierpark.“

„Wir auch.“

„Hörst Du mich?“

„Ja. Kannst Du unser Auto sehen?“ (Wir fuhren direkt hintereinander.)

Der Gerechtigkeit halber muss man aber sagen, dass die Walkie-Talkies uns dann doch noch einen großen Dienst erwiesen, als wir uns im Tierpark irgendwie verloren hatten.

 

Mit dem neuen Jahr kam auch gleich eine große Herausforderung. Mitte Februar sollten wir nach Greifswald fahren, zum mehrfachen Familiengeburtstagsfest. Der Tradition folgend, bastelten wir schon eine ganze Weile an einem kleinen kulturellen Beitrag dafür, hatten uns aber erst nicht so recht einigen können. Nun mussten wir, denn die Zeit wurde knapp.

Die Wahl fiel auf die Darstellung einer Tagesschau, mit Andreas als Nachrichtensprecher und Beiträgen, die den Wünschen der Jubilarin entsprachen, also: Flora tanzen zu sehen, die Jungs auf ihren Instrumenten zu hören, oder an Familientraditionen anknüpften (Palmström, eine alte Wettersendung auf Kassette von Lisannes Cousins). Das Ganze füllten wir auf mit passenden Inlands-, Auslands- und Sportbeiträgen. Und dann mussten wir proben, proben und proben.

Als kleine Lockspeise für Lisanne hatten wir eine Nummer von der Frankfurter Buchmesse eingefügt, bei der sie ihr neues Buch präsentieren konnte, falls es bis zum Fest fertig war. Lisanne schrieb wie ein Weltmeister und schaffte es tatsächlich, Andreas drei Tage vor der Abfahrt eine Rohfassung zum Ausdrucken vorzulegen. Das war im Februar, und Anfang Mai hatte Lisanne es tatsächlich geschafft, die Geschichte selber einmal zu lesen. Nun ist das Manuskript unterwegs zu ein paar Probelesern und zu den ersten Verlagen.

Angesichts der Tatsache, dass wir nur noch selten Besuch von den Omas bekommen und diese, wenn sie hier sind, auch wenig Freizeit haben, beschloss Lisanne, sich nun doch selber wieder mit der Nähmaschine und der zu reparierenden Wäsche zu beschäftigen. Um nicht allein auf weiter Flur zu verzweifeln, schloss sie sich dem Vormittagsnähkurs in „Meretes kleinem Atelier“ an. Vier lange Vormittage arbeitete sie hier unter Einsatz aller ihrer Kräfte und brachte schließlich einen rosageblümten Stoffhasen, mehrere alte Handtücher mit neuen Henkeln und einen Kissenbezug mit drei rotbäckigen Engeln zustande. Es war anstrengender als Gräben schippen, aber es hat sich gelohnt, denn die Angst vor der Nähmaschine ist kleiner geworden (der Berg Nähwäsche aber noch nicht).

Das liegt mit daran, dass Lisanne auch noch für Felix Klasse Elternsprecherin geworden ist und deshalb öfter mal zu irgendwelchen Versammlungen geht. In diesen Versammlungen ging es im letzten halben Jahr vor allem darum, dass die Unterstufe (1.-7. Klasse) und die Oberstufe (8.bis 10.) in einer Schule zusammengeschlossen werden sollen, um Geld für die Verwaltung zu sparen. Erst ging es um Protest und dann darum, sich mit der vom Stadtrat beschlossenen Situation zu arrangieren. Hier war wieder einmal viel Gelegenheit für Kulturschocks, die ihren stolzen Höhepunkt in einer dieser Versammlungen hatten, als Lisanne sich meldete und fragte, ob denn norwegische Oberschüler wirklich so schrecklich und gefährlich wären, wie es nach den Bedenkensäußerungen der Anwesenden den Anschein hatte. Immerhin haben wir (Andreas und ich) ja beide die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule hinter uns, ohne größeren Schaden genommen zu haben und wir kennen eine Menge Leute, die das auch geschafft haben. Die Norweger stutzten, lachten – und fuhren fort, Schlachtpläne gegen die große Gefahr zu entwickeln.

Neuerdings hat Lisanne sogar Gelegenheit, ein paar ihrer Mathematikkenntnisse wieder aus dem Verborgenen zu holen. Auf einer wunderschönen Winterparty von Andreas Kollegen in Lillesand wurden wir mit dem Künstler Ivar Shippervold und seiner Frau Tora bekannt. Tora ist nun wiederum die Flüchtlingsverantwortliche für Grimstad und in dieser Eigenschaft hat sie Lisanne als Hausaufgabenhilfe für Flüchtlingsjugendliche angestellt, für zwei Stunden dienstags Nachmittag.

Felix

Unser ältester Sohn ist Lisanne bereits über den Kopf gewachsen, und auch sonst wird er groß. Er hat ein sehr anstrengendes und ereignisreiches Schuljahr fast hinter sich und mit Bravour bestanden.

Im Herbst sah alles noch ganz einfach aus. Felix durfte endlich zum Matheunterricht in der weiterführenden Schule (Erweiterte Oberschule sozusagen, also Klasse 11 bis 13 in Deutschland, hier erste bis dritte) gehen, in die erste (=11.) Klasse. Nach vier Wochen schlug der Mathelehrer vor, dass Felix doch gleich in die 2. (=12.) Klasse wechseln könnte, was er auch tat. Zitat Felix nach der ersten Mathestunde dort (mit leuchtenden Augen): Mama, heute haben wir etwas gelernt, das ich noch nicht konnte!

Am dritten Mai war Felix bei der schriftlichen Abschlussprüfung in Mathematik für die 12. Klasse. Wenn alles so läuft wie bei den Probeaufgaben (und er hat behauptet, dass es genauso leicht war), wird er sehr gut bestehen.

Und das, obwohl er den größten Teil der Schulzeit damit verbracht hat,  zusätzliche Aufgaben für Norwegisch und Gesellschaftskunde zu bearbeiten. Der Ratgeber der weiterführenden Schule hatte nämlich vorgeschlagen, dass Felix ab August 2005 doch gleich zu ihnen kommen sollte. Felix und wir waren mit diesem Vorschlag einverstanden, aber da ahnte noch keiner, was das praktisch bedeutete. Es stellte sich nämlich heraus, dass Felix einen ganz normalen Abschluss der zehnten Klasse braucht. Also ging er in die neunte Klasse samt allen Hausaufgaben, hatte Mathe in der 12., eignete sich Mathe von der elften im Selbststudium an und nahm Extrastunden für die Kenntnisse aus der zehnten Klasse.

Allerdings hätte er das alles nicht ohne seine Lehrerin Eva geschafft, die nicht nur genau heraussuchte, was er an Extrakenntnissen brauchte, Felix dazu brachte, das alles zu lernen, sondern vor allem auch die Übersicht über die verzwickten norwegischen administrativen Regeln und Schritte bewahrte, ohne die der Plan mindestens fünfmal unterwegs gescheitert wäre.

Im Mai sind die Prüfungen, wir sind schon sehr gespannt, wie das ausgeht.

Und wir freuen uns (alle!) darauf, dass er im nächsten Schuljahr etwas weniger zu tun hat.

Neben der Schule spielt Felix weiterhin fleißig und begeistert Klavier, und dank der engagierten Klavierlehrerin lernt er neue Genres und Methoden statt der ewigen klassischen Etüden. So klingen die Beatles durch unseren Wintergarten genauso wie „die Gedanken sind frei“, Plaisier d’amour, Diana, der rosa Panther und und und …

Mit dem Sporttreiben war Felix diesen Winter nicht so glücklich, weil sich das Asthma ohne Medizin – und dann auch mit Medizin  - immer weiter verschlechterte. Im März hat er wieder mit Kortison angefangen, seitdem geht es.

Aber Felix lässt sich nicht abschrecken, denn er bewegt sich gern. Zu seinem Geburtstag und zu Weihnachten hatte er nur einen Wunsch – eine Tischtennisplatte. Das war ein ziemlich großer Wunsch, aber mit vereinten Finanzen stand tatsächlich Heiligabend ein großes, großes Paket in der Garage. Der beliebteste Spielpartner für alle Kinder ist allerdings Lisanne – gegen die kann man nämlich gewinnen!

Dafür ist Felix inzwischen ein großer Helfer im Haushalt geworden. Dank des Hauswirtschaftsunterrichts in der Schule kann er prima kochen und backen und probiert das auch gerne und zur Freude der restlichen Familie zu Hause aus. Er macht tolle Hefeklöße, Brote, Eierkuchen, Eierflockensuppe, Nudeln, Tomatensuppe und vieles mehr.

Da Felix vierzehn ist, ist dieses Jahr auch noch das Jahr der Konfirmation. Hier in Norwegen kann man zwischen bürgerlicher Konfirmation (Jugendweihe oder so was ähnliches) und christlicher Konfirmation in einer der unzähligen Kirchengemeinden wählen. Felix blieb bei der zur Schule gehörenden Staatskirche hängen, in der Gemeinde von Landvik und Österhus (zwei Stadtteile von Grimstad, die rechts bzw. links vom Vestre Gröm liegen). Hier sind wir im Laufe des Jahres gut aufgenommen und bekannt geworden. Das große Ereignis findet am 22. Mai statt, wird aber auf ausdrücklichen Wunsch der Hauptperson nur in kleinem Kreis gefeiert. Diesmal wünscht Felix sich Alpinski …

Die Konfirmandenzeit war übrigens recht abenteuerlich. Da gab es Nachtwanderungen auf steile Berge und als verletzter Flüchtling, einen Ausflug zum Alpinskilaufen, viele Gottesdienste zum Mitarbeiten, ein politisch engagiertes Theaterstück zum Abschluss und anderes mehr. Zwischendurch mussten sich die Konfirmanden auch eine Freizeitaktivität in einer der vielen kirchlichen Jugendgruppen aussuchen. Felix entschied sich für die Tanzgruppe, als einziger Junge unter zwanzig Mädchen.

Außerdem geht er jetzt manchmal Freitagabend in den Klub, von 20 bis 24 Uhr. Da scheint es sehr gemütlich und lustig zu sein, aber wir Eltern müssen uns ganz schön dran gewöhnen, dass Felix so spät noch unterwegs ist.

Mit Felix Konfirmation hat auch unsere lange Suche nach einer spirituellen Heimat auf eine – doch etwas überraschende – Weise erst einmal ein Ende gefunden. Flora wollte bereits im letzten Sommer getauft werden, Frieder fühlt sich schon immer als Christ, Felix wollte konfirmiert werden, Andreas und Lisanne fühlten sich gut aufgehoben in der Gemeinde und mit den grundlegenden christlichen Werten – was lag da näher als eine Familientaufe?

Am Ostersonntag war es dann so weit, mit der Unterstützung von einer randvollen Kirche, vielen lieben Freunden und Familienmitgliedern und natürlich unseren Taufpaten knieten wir einer nach dem anderen vor dem Taufbecken nieder.

Das war auch für hiesige Verhältnisse ziemlich ungewöhnlich und wir kamen ebenso in die lokale Zeitung wie in die Kirchenzeitung (mit einem doppelseitigen Interview) und werden jetzt noch oft von Unbekannten angesprochen, wie sehr sie davon beeindruckt waren.

Flora

Auch Flora wächst heran. Sie wird immer hübscher und immer jungfräulicher. In der Schule geht es bei ihr zum Glück nicht so heiß her wie bei Felix. Es ist mehr „business as usual“. Sie hat einige Freundinnen, mit denen sie sich wechselnd gut versteht. Das heißt, manchmal ist alles ganz prima, und manchmal können sie sich nicht leiden. Das Lieblingsspiel der Mädchen ist die jeweils anderen auszuschließen. Flora ist darüber nicht so besonders glücklich, weil sie ein beliebtes Opfer ist.

Mit den Schulfächern kommt Flora gut zurecht. Am Anfang hatte sie sehr große Schwierigkeiten mit Englisch, was vielleicht auch kein Wunder ist, wer schafft es schon, zwei Fremdsprachen gleichzeitig zu lernen? Aber diese Probleme hat sie überwunden. Sie übt jetzt jede Woche gewissenhaft die neuen Vokabeln, kann sie nach Norwegisch übersetzen und richtig schreiben.

Es ist erstaunlich zu sehen, wie gut sie sich im Norwegischen zurechtfindet. Im Winter hatte die sechste Klasse ein Mittelalterprojekt, bei dem die Kinder jeden Tag aufschreiben sollten, was sie gelernt hatten oder womit sie beschäftigt waren. Flora hatte nach zwei Schulwochen 21 A4-Seiten geschrieben! Und illustriert und dazu Häuser und Menschen für die große gemeinsame Mittelalterlandschaftswandzeitung in der Schule gemalt.

Flora hat zumindest ein kleines Talent für Mathematik, das kommt allerdings in der Schule nicht besonders zum Tragen. Den ganzen Herbst waren die Kinder damit beschäftigt, die Malfolgen zu wiederholen, von eins bis zehn, und das in der sechsten Klasse… Immerhin findet Andreas ab und zu mal ein paar Knobelaufgaben, die er mit ihr lösen kann, da blüht sie dann richtig auf. Wir bedauern sehr, dass es keine Alpha-Zeitung mehr gibt, das wäre genau das Richtige für unsere Kinder.

Auch Flora hat Hauswirtschaft in der Schule. Sie kommt jeden Donnerstag voller Vergnügen mit neuen Leckereien zu Hause an: Brot, Kuchen, Naschwerk, etc. Die Kinder lernen aber nicht nur Süßes herzustellen. Das selbst gekochte warme Essen wird in der Schule verspeist, die Reste kriegen die Lehrer. Die haben es wirklich gut, denn der gesundheitsbewusste Speiseplan sieht viele Gerichte mit Fisch vor, und die essen die Kinder alle nicht, obwohl sie sie jetzt kochen können.

Am meisten freut sich Flora aber, wenn sie sich bewegen darf. Deshalb ist sie auch in der hiesigen Tanzschule angemeldet und lernt Jazztanz. Zum Abschluss des Tanzsemesters gab es im großen Saal des Kulturhauses eine aufregende Tanz-Vorstellung von Alice im Wunderland, bei der Flora eine der Krocketfiguren spielte. Aufregung ohne Ende auf allen Seiten! Da mussten weiße Caprihosen beschafft werden, ein weißes Singlet, beinahe hätten wir keine Karten mehr für die Vorstellung bekommen, weil beide Tage völlig ausverkauft waren, Flora brauchte reichlich Verpflegung (und Schokolade), durfte die warmen Socken nicht vergessen, und und und...

Außerdem ist Flora immer wieder begeistert bei den Speidern, d.h. den Pfadfindern. Mehrmals im Jahr macht sie Wochenend-Ausflüge mit ihrer Gruppe in die nähere oder weitere Umgebung und übernachtet im Freien oder im Zelt oder in einer Hütte. Sie bauen Tische und Stühle aus Naturmaterialien, lernen Erste Hilfe, Knoten und Orientierung im Gelände. Im Winter ist es natürlich zu kalt für eine Übernachtung draußen, dann fahren sie eben in ein Alpin-Skigebiet und brausen die Hänge runter. Das war im richtigen Winter.

Jetzt im April waren sie bei einem großen Speiderwettkampf, da war Nachtfrost, und die Kinder haben draußen im Zelt geschlafen (na ja, wohl eher versucht zu schlafen, denn es war sehr sehr kalt). Aber Flora kam strahlend und vor Vergnügen kichernd zurück, so großen Spaß hatte es gemacht. Ihr Bericht lautete in Kurzfassung so (und wurde auch im Original fast ohne Atemholen, nur viel viel ausführlicher vorgetragen): Kamilla hat sich in einem Erdloch versteckt und die Pfadfinderleiter sind einfach oben drüber gegangen, ohne sie zu entdecken, das Frühstück musste ausfallen, weil sie keine Zeit zum essen hatten, der Skistock, denn sie ausschließlich aus einem Ast, Streichhölzern, etwas Schnur und Klebeband herstellen mussten, sah sehr komisch aus und ihre Knoten waren ganz toll, weil sie es geschafft haben, ein Gruppenmitglied auf einem selbst hergestellten Holzgestell vom Start bis ins Ziel zu kriegen, indem die restlichen vier Pfadfinder an irgendwelchen Seilen zerrten, die an dem Holzgestell befestigt waren, sie hatte viel zu wenig Süßigkeiten mit, die vielen warmen Sachen waren tagsüber zu warm und nachts zu kalt, die Jungs im Nachbarzelt haben dauernd die Mädchen geneckt, sie waren die Jüngsten da und wussten viele Antworten auf die Theoriefragen nicht und sie fährt da ganz bestimmt nächstes Jahr wieder hin.

Die kulturelle Ader von Flora liegt vor allem in Richtung der bildenden Kunst, deshalb ist Flora in der Kulturschule (wo Felix und Frieder Musik machen) zum Zeichnen angemeldet. Innerhalb eines halben Jahres hat Flora so einen Ausflug in viele verschiedene Techniken, und Themen unternommen, und wir waren sprachlos vor Staunen, was alles in dieser kurzen Zeit entstanden ist. Passenderweise war im Januar der lokale Talentewettbewerb für Kinder, wo Flora gleich ihr schönstes Bild eingereicht hat. Und siehe da – sie wurde ausgewählt für den Fylkeswettbewerb (Bundeslandebene sozusagen). Da waren wir in Arendal und haben Floras Bild und viele andere schöne Kunstwerke begutachtet. Zum norwegischen Finale konnte sie leider nicht, weil man dafür mindestens 14 Jahre alt sein muss.

Frieder

Frieders Leben spielt sich noch in ganz geruhsamen Bahnen ab. Er hat aber auch das passende Gemüt dazu. Nachdem Lisanne es aufgegeben hatte, jeden Morgen zu drängeln und zu schimpfen, bis Frieder endlich soweit war, das Haus verlassen zu wollen, kam er ein paar Mal zu spät zur Schule. Auf Lisannes (hoffnungsvolle) Frage, ob er denn Ärger in der Schule bekommen hätte, meinte Frieder nein, sie wären doch erst beim Singen gewesen, das hätte gar nicht gestört. Tatsächlich meinte der Lehrer auf Lisannes Nachfrage, dass er ja weiß, dass Frieder so einen weiten Weg hat und es ihm nachsieht, wenn er etwas zu spät kommt!

An Frieders schulischen Leistungen gibt es nichts zu mäkeln, die sind einfach prima. Er liest schneller als die meisten Kinder seiner Klasse (in beiden Sprachen). Im Rechnen ist er nicht besonders schnell, aber das, was er können muss, kann er. Er interessiert sich nur einfach überhaupt nicht dafür.

Dafür bringt er meistens sein gesamtes Frühstück wieder mit nach hause, weil die Geschichten, die der Lehrer in der Essenspause vorliest (zum Beispiel die „Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren), so spannend sind, dass Frieder keinen Bissen hinunter bekommt.

In der dritten Klasse haben die Kinder auch Englisch und Schwimmunterricht. Während Englisch im ersten Halbjahr mehr oder weniger unbemerkt vorbeiging, ist Schwimmen in diesem Halbjahr die große Attraktion. Frieder denkt sogar selber daran, sein Schwimmzeug einzupacken (jedenfalls Donnerstag früh kurz nach dem Losgehen).

Die Art des Schwimmunterrichts löst bei uns immer wieder Erstaunen aus. Also, Frieder kann sich über Wasser halten. Gut sogar, auch wenn die „Schwimm“bewegungen mehr nach Hundepaddeln aussehen. Er liebt das Wasser und kommt nach jeder Schwimmstunde mit Berichten über neue geniale Spiele mit den wunderlichsten Namen zurück. Was bei ihm eine steife Hexe ist, war bei uns früher ein Startsprung… Sie lernen schon die richtigen Sachen, aber auf was für eine spielerische Art!

Frieder hat in diesem Schuljahr auch mit richtigen „ernsthaften“ Nachmittagsbeschäftigungen angefangen. Im August hatte Lisanne so lange den Musikschuldirektor genervt, bis er noch einen Platz beim Klarinettenunterricht für Frieder ausfindig machte. Eigentlich ist Frieder noch zu klein, weil die Kinder hier erst mit der vierten Klasse in der Musikschule anfangen, sie wollten ihn also noch ein Jahr warten lassen. Lisanne meinte aber, dass dieses Kind so musikalisches ist, dass es dringend ordentlichen Unterricht braucht, und sie sollte Recht behalten.

Zwischen Frieder und der Klarinette entwickelte sich eine Liebe auf den ersten Blick. Obwohl er längst noch nicht alle Noten auf der Klarinette spielen konnte, die dafür nötig waren, bestand Frieder darauf, Weihnachtslieder zu spielen (nach knapp drei Monaten Unterricht). Der Lehrer musste also etwas von seinem vorgegebenen Programm abweichen, zu unserer großen Freude und Begeisterung, denn Frieder konnte bis Weihnachten sechs Lieder, zu denen er uns durch alle Strophen sicher begleitete.

Den allerhöchsten Klarinettenhöhepunkt hatten wir aber auf dem Familienfest in Greifswald, als Frieder auf der Klarinette improvisierte und dabei von Hannes (Lisannes äußerst musikalischem Cousin) am Klavier begleitet wurde. Die beiden hätte man in jeder Bar mit etwas höherem Niveau als Abendunterhaltung verkaufen können.

Bis Frieder alt genug dafür ist, übt er, unterschiedlich fleißig, weiter. Inzwischen ist er schon Mitglied im Aspirant-Korps, das ist eine einjährige Vorbereitung auf jahrelange treue Dienste im Schulemusikkorps (also eine schuleigene Blaskapelle; auch Fanfarenzug genannt). Wir haben ihn schon zwei Mal auftreten sehen, und am Nationalfeiertag war er sogar richtig in der blauroten Matrosenuniform dabei. Sind wir stolz!

Neben den musikalischen Fertigkeiten bestanden wir darauf, dass Frieder sich auch noch etwas bewegen soll. Da er das nicht unbedingt freiwillig tat (es wird aber immer besser), durfte er sich einen Sportverein aussuchen. Die meisten Jungs spielen hier Fußball, aber dazu hatte Frieder nicht die geringste Lust. So landete er schließlich beim Turnen und ist seitdem mit Eifer dabei. Unter Turnen wird hier die Kombination von Bodenübungen (auf einem langen gut gefederten Laufsteg) und schwierigen Sprüngen (vom Trampolin auf dicke Matten) verstanden. Obwohl Frieder am Anfang nicht gerade graziös aussah, übt er unverdrossen und mit großer Begeisterung. Unser Flur hat bestimmt schon siebenhundert Handstandversuche von Frieder gesehen. Oder mehr. Und die neuesten sehen wie echter Handstand aus. Jetzt geht er zu den Saltos über, aber die werden dann doch nicht zu hause geübt. Zum Glück.

Die Turner sind mindestens genauso aktiv wie die Musiker und Tänzer. In dem einen Schuljahr war Frieder bereits bei drei Wettkämpfen und ist jedes Mal mit einer Medaille zurückgekommen, die werden nämlich für die Jüngsten für die Teilnahme verteilt. An alle. Stellt Euch eine Turnhalle vor, rammelvoll mit 8 bis 12-jährigen, und jeder kriegt eine Medaille umgehängt…

Wenn Frieder nicht gerade turnt, Klarinette spielt oder Comics liest (ja, manchmal macht er sogar Hausaufgaben), ist er mit seinem neuen Kumpel unterwegs. Even geht in die Parallelklasse und wohnt schräg übern Acker, also auch im Vestre Gröm. Die beiden haben viel Spaß miteinander. Even hat ein (großes!) Trampolin und einen Trettraktor, beide haben Rollerblades und Fahrräder und Roller, wir haben eine Tischtennisplatte, einen fantastischen Sandkasten mitten auf dem Berg und viel bunte Kreide und für Regentage stehen unendliche Mengen an Lego und Matchboxautos bereit. Wenn die Mütter nicht ab und zu so gemeine Sachen wie Essen, Aufräumen, Waschen und  Schlafengehen verlangen würden, was für ein fantastisches Leben wäre das!

 

 

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[1] Zum Glück war schon vorher klar, dass es da Probleme geben könnte, und so lautet der Vertrag nur auf die globalen Angelegenheiten (elektronische Registrierung, Webseiten, etc.). Die lokalen Sachen in Grimstad werden sowieso hier erledigt.

[2] Die Anmeldung ist allerdings noch offen: http://ikt.hia.no/sdl05 .

[3] Anmerkung Andreas: Mit seiner Höhe stellt auch dieser Baum eine nicht unerhebliche Gefahr dar, aber den lassen wir erstmal noch stehen.

[4] Anmerkung Lisanne: Der Baum hat reichlich Efeu an sich dran, und ist deshalb ganz unten nur sehr großzügig zu umgehen. Da müssen wir auch noch mal eine Verschlankungskur einlegen.

[5] Wir selber waren nicht ganz professionell und ließen uns keinen Kostenvoranschlag geben, so dass wir am Ende noch so unsere liebe Not mit der Rechnung hatten.